Restrisiko

Wirklich, wir leben in finsteren Zeiten. Bert Brecht lässt grüssen: „an die Nachgeborenen“.

Günter Grass nannte vorgestern auf der Veranstaltung in Straelen, nach seinem Lieblingswort befragt, das Wort „Restrisiko“. Das war wohl eher kritisch – verzeifelt gemeint.

Deutlich wird daran einmal, welche Wirkung Wort haben: wie sie eingesetzt werden und wurden, um uns einzulullen, um uns zu umnebeln bei der Verlautbarung schlimmer Nachrichten oder von Sachverhalte. Deutlich wird, wie funktional das Wort ist, wie dehnbar in seiner Bedeutung und wie genau wir hinhören und hinschauen müssen, um seinen Gehalt zu erfassen und uns nicht bevormunden zu lassen. Das gilt für alle diese Worte.

Und das Wort „Restrisiko“ gibt in seiner Nennung durch Grass wieder, dass er am wichtigsten Thema der letzten Tage betroffen teilnimmt. Es stockt einem der Atem, bei dem Umfang an Elend, Trauer, Verzweiflung und Leiden, gepaart mit unvorstellbarer Hoffnungslosigkeit, das in Japan so schicksalshaft und gleichzeitig von Menschen erzeugt zu Tage tritt.

Ich kann momentan nicht zur Tagesordnung übergehen. Ich kann eigentlich nicht wie immer meinen Blog schreiben, Kunst machen und mich über Kunsttheoretisches austauschen. Der Rückzug in die Garage bringt auch nichts.

Ich verdaue momentan. Ich versuche zu verdauen, was da geschieht. Und versuche gleichzeitig normal weiter zu machen.

Sevina meint, dass dies in den Köpfen von uns allen eine Umdenken bewirken wird. Dass wir danach nicht mehr akzeptieren können, das Wachstum die Leitgröße ist, das technischer Fortschritt immer so weiter gehen könnte, dass wir ungehemmt verbrauen können. Sie hofft auf eine Bewußtseinsänderung, langsam aber stetig, ausgelöst durch die Wahrnehmung „dieser finsteren Zeiten“.

Buchalov

Grass war in der Stadt

Meine Frau hatte Karten zu einer Lesung von Günter Grass in Straelen – im Forum des Gymnasiums. Auf der Eintrittskarte stand „freie Platzwahl“, aber das Kollegium des Gymnasiums hatte für sich und die Angehörigen die ersten Reihen reserviert. Fand ich unverschämt. Fand ich nicht toll.

Toll aber war Grass: Ein 83jähriger, dem dies Alter körperlich anzusehen war, der aber vom Kopf her klar wie eh und jeh redete. Er erzählte von seinem Besuch im Übersetzterkollegium in Straelen und las danach aus seinem Buch „Grimms Wörter“. Er las gut, er las Worte, die ich noch nie gehört hatte, er las Worte, die ich schon gehört hatte, die aber in dieser Verwendung nach großer Literatur klangen. Und es sicherlich auch waren. Und er las ohne Spannungsbogen. Dies war für mich als Wenigleser – ich sitze ja immer bei meiner Maschine – nicht ganz so einfach.

Mir hat gefallen, dass Grass nicht aus der Zeit gefallen ist. Seine Literatur ist sicher zeitlos, er aber ist ein Künstler, der politisch in der Zeit steht. Und wirkt. Und sich dazu bekennt.

Buchalov